Reifeprüfung für die Tech-Industrie

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Für die Tech-Industrie ging es in den vergangenen Jahren nur steil nach oben. Das galt für die börsennotierten großen Plattformunternehmen genauso, wie für die private Start-up Branche, wo sich der Wert aller Wagniskapitaltransaktionen zwischen 2016 und 2021 mehr als vervierfacht hat. Doch nun hat sich das Marktumfeld spürbar geändert. Aufgrund strafferer Finanzierungsbedingungen sowie hoher konjunktureller und geopolitischer Unsicherheit steht die Branche plötzlich vor bislang unbekannten Problemen. Diese reichen von fallenden Bewertungen und schwierigeren Finanzierungen bis hin zu Entlassungen. Damit steht die Tech-Industrie natürlich nicht vor dem Kollaps. Allerdings dürfte die unbeschwerte Zeit des Wachstums um jeden Preis vorbei sein.

Wachstum um jeden Preis

Twitter Gründer Jack Dorsey hat sich Anfang November, bei seinen ehemaligen Angestellten dafür entschuldigt, dass er die Firma zu schnell hat wachsen lassen. Er trage damit eine Mitschuld an der vom neuen Besitzer, Elon Musk, angekündigten Kündigungswelle: “I grew the company size too quickly. I apologize for that.” Doch während Twitter ohne Zweifel eines der prominentesten Beispiele ist, ist die Firma bei Weitem keine Ausnahme. Denn in der gesamten Tech-Industrie ging es in den vergangenen Jahren nur steil nach oben und das einzige Ziel war Wachstum, Wachstum, Wachstum. Auf Cash Flows oder das Geschäftsmodell kam es dabei zuletzt immer weniger an. CNBC zitierte in dieser Woche den CEO eines FinTech Unternehmens mit den Worten: “Last year, a small team could share a PDF deck with investors and receive $6 million in seed funding “instantly, ” — a clear sign of excess in venture dealmaking.” Ermöglicht wurde diese Übertreibung insbesondere durch zwei, sich gegenseitig verstärkende Faktoren:

  1. Niedrige Zinsen und quantitative Lockerungsprogramme der Zentralbanken haben die Finanzmärkte mit Liquidität überschwemmt. Auf der Suche nach Returns und aufgrund mangelnder Alternativen waren Investoren mehr als gewillt, Ihr Geld auch in risikoreichere Anlageklassen zu stecken – von Emerging Markets bis hin zu privaten Start-ups.
  2. Erfolge der großen Plattformunternehmen (Facebook, Amazon, Apple, Google, …), anhaltende technologische Neuerungen sowie Verhaltensänderungen von Konsumenten und Unternehmen im Zuge die COVID-Pandemie haben zu einem regelrechten Start-up Hype in der Tech-Industrie geführt. Zudem setzten anfängliche hohe Renditen von frühen Investoren andere Anleger unter Zugzwang. Die Angst, die Rally zu verpassen (FOMO – fear of missing out) führte letztendlich dazu, dass erhebliche Summen in den Sektor geflossen sind und so die Bewertungen der Firmen aufgebläht haben.

Offensichtlich ist diese Entwicklung im NASDAQ 100, einem Aktienindex, der insbesondere die großen Plattform-Firmen beinhaltet. Er ist zwischen Anfang 2019 und Ende 2021 um 160% in die Höhe geschossen und hat mit über 16.000 Punkten ein Allzeit-Hoch markiert. Weniger öffentlich sichtbar, aber dafür umso bemerkenswerter war der Boom in der privaten Start-up Szene. Nach Angaben der National Venture Capital Association (NVCA) belief sich der Wert aller Wagniskapitaltransaktionen (Venture Capital Deals) im Jahr 2021 weltweit auf sagenhafte 683 Mrd. USD. Das ist mehr als doppelt so viel wie im Jahr zuvor und gut vier Mal so viel wie in 2016! Crunchbase, ein Datenbankanbieter und Nachrichtenportal mit dem Schwerpunkt Tech-Industrie, kommt auf vergleichbar hohe Werte (orangene Balken). 

Quellen: Pitchbook und National Venture Capital Association (blaue Balken), crunchbase.com (orangene Balken)

Das Marktumfeld hat sich spürbar verschlechtert

Jetzt scheint diese unbeschwerte Zeit allerdings vorbei zu sein, zumal sich das Marktumfeld spürbar verschlechtert hat. Zu nennen sind in erster Linie

  1. höhere Zinsen und damit einhergehend eine schrumpfende Liquidität an den Finanzmärkten,
  2. der eingetrübte Konjunkturausblick aufgrund der hohen Inflationsraten, geopolitsicher Unsicherheit und der Lieferkettenengpässe.

Der IWF hat in seinem aktuellen Global Financial Stability Report darauf hingewiesen, dass “amid heightened economic and geopolitical uncertanties, investors have aggressively pulled back from risk-taking in September.” Negativ betroffen waren Schwellenländer-Anleihen genauso wie die Tech-Industrie, wo die NVCAinvestor hesitancy and increased focus on business fundamentals amid the global economic downturn” betont.

Fallende Bewertungen …

An der Börse ist der NASDAQ 100 seit seinem Allzeit-Hoch Ende 2021 um knapp 30% gefallen. Überdurchschnittlich hart hat es Unternehmen getroffen, die erst vor Kurzem einen Börsengang (IPO) abgeschlossen haben. Die von Pitchbook veröffentlichten Venture Capital- und Private Equity-Backed IPO Indizes fielen in den vergangenen zwölf Monaten um 69% bzw. 52%.

Quelle: Pitchbook

Ähnlich sieht es bei den Start-up Unternehmen aus, die kurz davor sind, an die Börse zu gehen. So ging die Bewertung der wertvollsten Late Venture Stage Unternehmen seit Ende 2021 um 55% zurück. Besonders dramatisch war der Rückgang im letzten Quartal mit 42%!

Quelle: Pitchbook

Eines der prominentesten Beispiele ist der schwedische Zahlungsanbieter Klarna, dessen Bewertung von 45,6 Mrd. USD in 2021 bis Juli diesen Jahres auf 6,7 Mrd. USD eingebrochen ist – ein Minus von 85%! Hinzu kommen Firmen wie der Lieferservice Instacart (von 39 Mrd. USD auf 13 Mrd. USD), Stripe, ein weiterer Zahlungsdienstleister (von 95 Mrd. USD auf 74 Mrd. USD), und viele mehr. Nach eigenen Angaben hat Kroll, eine externe Bewertungsfirma, in den vergangenen Monaten 40%-50% ihrer Kunden angewiesen, die Bewertungen zu kürzen.

Dabei muss man wissen, dass Bewertungen von privaten Start-ups nicht regelmäßig durchgeführt werden. Der häufigste Anlass für die extern durchgeführten (409A) Begutachtungen ist, dass die Firmen neue Kredite benötigen oder den Börsengang vorbereiten. Auch die oben genannten Downgrades von Klarna und andere Firmen erfolgten im Rahmen von neuen Finanzierungsrunden. Dieser Umstand erklärt möglicherweise auch, weshalb bislang vor allem die reiferen Late-Stage Firmen von den Herabstufungen betroffen waren, während sich die Bewertungen jüngerer Start-ups (Angel, Seeds und Early Stage) bislang noch relativ besser halten konnten. Interessant ist auch, dass die Zahl der Exits aus dem privaten Wagniskapitalmarkt (üblicherweise durch Börsengänge) zuletzt deutlich zurückgegangen ist. Neben dem schlechteren Börsenumfeld könnte auch die Angst vor deutlich niedrigeren Bewertungen ein Grund dafür sein. Denn diese müssten vor dem IPO sicherlich aktualisiert werden.

… schwierige Finanzierungen, …

Firmenbewertungen und Zugang zu finanziellen Mitteln beeinflussen sich gegenseitig: Weniger Liquidität in den Märkten drückt auf die Bewertungen, während fallende Bewertungen wiederum den Zugang zu Investoren erschwert. Entsprechend wenig verwunderlich ist es, dass sich das Finanzierungsumfeld für die privaten Start-ups parallel zu den Bewertungen deutlich verschlechtert hat. Nach Angaben von Crunchbase ist der Wert der globalen Wagniskapitaltransaktionen seit Ende 2021 um 56% eingebrochen, also etwa genauso stark wie die Bewertungen. Zudem erfolgte auch bei den Finanzierungen der größte Rückgang im letzten Quartal (-33%) und bei den bereits weit entwickelten Late Stage Unternehmen.

Quelle: crunchbase.com

Zwar weist die NVCA zurecht darauf hin, dass die Anzahl der abgeschlossenen Deals sowie die Finanzierungsvolumina in 2022 immer noch höher seien als in jedem anderen Jahr, abgesehen vom Rekordjahr 2021 (“2022 surpasses all years except 2021“). Allerdings liegt das im Wesentlichen an dem noch relativ robusten ersten Halbjahr. Danach hat sich die Aktivität, wie oben gezeigt, spürbar verschlechtert. Und der Boden dürfte noch nicht erreicht sein.

Ein Blick auf die Regionen zeigt, dass der Rückgang der Aktivität weltweit zu beobachten war. In den USA, die immer noch rund die Hälfte des Venture Capital Marktes auf sich vereinigen, ging der Wert der Wagniskapitaltransaktionen seit Ende 2021 um 53% zurück, während er in Europa um 36% fiel. Im Rest der Welt, insbesondere Asien, dürfte das Finanzierungsvolumen seit Ende letzten Jahres damit um rund zwei Drittel eingebrochen sein.

Quelle: Pitchbook, NVCA

Zusätzlich mussten einige Firmen den Investoren bessere Konditionen einräumen, um die gewünschten Finanzierungen zu erhalten. Hierzu zählen laut Heeter und Woo deutlich höhere Garantiezahlungen: “They had to offer terms that guaranteed investors a return of as much as double their money in a worst-case scenario. The cost is so high that some venture capitalists and founders have dubbed the fundraisings “up rounds in name only.”” Dass der Wagniskapitalmarkt immer investorenfreundlicher wird, bestätigt auch der von Pitchbook und der NVCA veröffentlichte Venture Capital dealmaking indicator, der sich zwischen dem ersten und dritten Quartal des Jahres mehr als verdreifacht hat.

Quelle: Pitchbook und NVCA

… Entlassungen

Niedrigere Bewertungen und schwierigere Finanzierungsbedingungen haben gerade in den vergangenen Tagen und Wochen dazu geführt, dass viele private Start-ups aber auch einige der großen Plattformunternehmen erhebliche Entlassungen angekündigt haben. So etwas war bis vor Kurzem schlicht undenkbar, zumal, wie die New York Times jüngst schrieb, “hiring the best, the brightest and the highest number of people was a badge of honor at tech companies.” Doch nun geht es bergab. Insgesamt beziffert layoffs.fyi die Zahl der Entlassungen im laufenden Jahr auf knapp 129.000 – Tendenz steigend, da einige der größten Ankündigungen erst in den vergangenen Tagen erfolgt sind.

Quelle: layoffs.fyi
  • Anfang dieser Woche gab Amazon die Entlassung von rund 10.000 Mitarbeitern bekannt, die größte Kündigung in der Geschichte des Unternehmens. In den vergangenen zwei Jahren hatte Amazon nach Angaben der NY Times die Zahl der Beschäftigten verdoppelt und die durch die Pandemie begünstigten Rekordgewinne in weitere Expansionsprojekte gesteckt.
  • Nur ein paar Tage vorher hatte Meta, der Mutterkonzern von Facebook und Instagram, die Entlassung von 11.000 Mitarbeitern bekannt gegeben. In seinem Brief an die Belegschaft machte auch Mark Zuckerberg die zu schnelle Expansion in den vergangenen Jahren für diesen Schritt verantwortlich: “At the start of Covid, the world rapidly moved online and the surge of e-commerce led to outsized revenue growth. Many people predicted this would be a permanent acceleration that would continue even after the pandemic ended. I did too, so I made the decision to significantly increase our investments. Unfortunately, this did not play out the way I expected.
  • Der oben bereits genannte Finanzdienstleister Stripe kündigte Anfang November an, die Zahl seiner Mitarbeiter um 14% zu reduzieren. Auch hier führten die Verantwortlichen als Grund ein zu schnelles Wachstum in den vergangenen Jahren an, das in dem sich nun schlechteren Umfeld korrigiert werden muss: “We overhired for the world we’re in […] We were much too optimistic about the internet economy’s near-term growth in 2022 and 2023 and underestimated both the likelihood and impact of a broader slowdown. We grew operating costs too quickly. Buoyed by the success we’re seeing in some of our new product areas, we allowed coordination costs to grow and operational inefficiencies to seep in.

Diese Aufzählung ließe sich beliebig weiter fortsetzen (eine Übersicht findet sich hier) und auch die anfangs zitierte Erklärung von Jack Dorsey im Rahmen der Entlassungen bei Twitter reiht sich nahtlos ein. Klar ist, dass die Tech-Industrie erstmals vor einer großen Entlassungswelle steht, welche sich in den kommenden Monaten sogar noch weiter beschleunigen könnte. Ein wesentlicher Grund dafür ist das zu schnelle Wachstum in den vergangenen Jahre, als man offenbar davon ausging, dass sich das ausgesprochen vorteilhafte Umfeld nie eintrüben würde. Diese Hoffnung hat sich leider nicht bewahrheitet.

Konsolidierung – kein Kollaps

Damit dürfte sich die Korrektur und Konsolidierung in der Tech-Industrie vorerst weiter fortsetzen. Schließlich gibt es immer noch genügend große und kleine Unternehmen, die die nötigen Schritte bislang noch nicht eingeleitet haben und statt dessen immer noch auf eine Wunderheilung hoffen. Gleichzeitig möchte ich betonen, dass ich natürlich keinen Kollaps des Sektors erwarte. Der eingeschlagene Trend hin zu mehr digitalen Lösungen, anhaltenden technischen Neuerungen und einer von Plattformen dominierten Welt wird sich weiter fortsetzen. Nur eben auf einem weniger steilen Pfad als zuletzt. Wenn dabei die Investoren etwas weniger euphorisch und dafür rationaler auf die Branche schauen, ist das aus Sicht der Finanzmarktstabilität sicherlich nur positiv. Start-ups müssen dabei potenzielle Geldgeber wieder etwas fundierter überzeugen, als mit einem kleinen pdf-deck. Nach dem Hype der letzten Jahre steht die Tech-Industrie damit vor ihrer Reifeprüfung. Ich denke, sie wird diese letztendlich souverän bestehen.

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