Zu viel Hype um die Inflation

Das Thema “Inflation” ist seit Monaten in aller Munde. Kein Wunder, denn mit 4,5% stiegen die Verbraucherpreise in Deutschland so kräftig wie zuletzt im Wiedervereinigungsboom 1993 (siehe Grafik). Damit drängt sich dieses Thema für einen ersten Blog förmlich auf. Mein Ziel ist es, die Angst vor der Inflation ein wenig zu “enthypen” – ganz unideologisch anhand von Zahlen und Fakten. Bedanken möchte ich mich an dieser Stelle bei Mariam Naseri, die mit ihrer unermüdlichen Literatur- und Datenrecherche einen maßgeblichen Beitrag zu diesem Blog geleistet hat (errors and omissions are mine).

Quelle: Statistisches Bundesamt

I. Warum ist die Inflationsrate aktuell so hoch?

1. Nein, es ist nicht die Geldmenge …

Der amerikanische Ökonom Milton Friedman sagte einst (1963): “Inflation is always and everywhere a monetary phenomenon in the sense that it is and can be produced only by a more rapid increase in the quantity of money than in output.” Diese Beziehung hat in Form der Quantitätsgleichung und Quantitätstheorie Einzug in sämtliche Standardlehrbücher der Makroökonomie gehalten. Und aus theoretischer Sicht macht der postulierte Zusammenhang zwischen Geldmenge und Preisniveau (und damit der Inflationsrate) zweifellos auch sehr viel Sinn. Einziges Problem: Die Daten sprechen eine komplett andere Sprache.

Nachdem die Quantitätstheorie, also die Beziehung zwischen Geldmengenwachstum und Inflation, etwa bis zum Jahr 2000 noch recht gut funktionierte, verschwand der empirische Zusammenhang danach komplett. >>kleiner Hinweis: Sie werden feststellen, dass alle Verfechter der Quantitätstheorie ihre Charts immer möglichst weit in der Vergangenheit beginnen, um den nicht vorhandenen Zusammenhang in den vergangenen 20 Jahren zu kaschieren. <<

Als empirischen Beleg für meine These habe ich ein 2005 von der Bundesbank vorgestelltes Modell für die Eurozone nachgeschätzt und auf den neusten Stand gebracht. Der folgende Chart vergleicht die von mir geschätzte Kernkomponente des Geldmengenwachstums (“Core Money”) mit der Inflationsrate. Letztere errechnet sich als Differenz zwischen dem Trendwachstum der Geldmenge und dem Trendwachstum des realen BIP, ganz im Sinne der Friedman’schen These. Bei Gültigkeit der Quantitätstheorie sollte diese Core Money-Zeitreihe also die Inflationsrate maßgeblich beeinflussen. Doch während man deutlich erkennt, dass dies zwischen 1980 und 2000 noch der Fall war, gibt es danach quasi keinen Zusammenhang mehr; auch das Zusammenlaufen zwischen 2010 und 2015 ist nur darauf zurückzuführen, dass das Geldmengenwachstum sich verlangsamt hat und nicht auf einen Anstieg der Inflationsrate. Festzuhalten ist also, dass seit 20 Jahren (!) selbst massive Anstiege der Geldmenge zu keinem nachhaltigen Anstieg der Inflationsrate in Europa geführt haben.

Quellen: Deutsche Bundesbank, Eurostat

Ich habe die gleiche Berechnung noch für die USA durchgeführt. Den Chart erspare ich Ihnen, da der Zusammenhang zwischen Core Money und der Inflationsrate dort noch viel weniger ausgeprägt ist. Wohl nicht ohne Grund beschloss die Federal Reserve bereits 2006, das breite Geldmengenaggregat M3 nicht mehr auszuweisen. Zudem werden seit Februar diesen Jahres die Aggregate M1 und M2 nur noch monatlich und nicht mehr wöchentlich veröffentlicht. Zur Abrundung möchte ich noch auf diesen aktuellen Blog der New York Fed verweisen, der für die Eurozone, Japan und Großbritannien ebenfalls zu dem Ergebnis kam, dass die dramatisch angestiegene Geldmenge nicht zu dem befürchteten Inflationsanstieg geführt hat: “Most notably, we find that the view that large-scale purchases of sovereign debt cause unmanageable inflationary pressures is not supported by the experiences of foreign advanced economies.”

Ursächlich für dieses Auseinanderlaufen von Geldmenge und Inflation ist vor allem die gestiegene Nachfrage nach Liquidität bzw. die drastisch verlangsamten Umlaufgeschwindigkeit des Geldes. Einfach formuliert: Wenn die Wirtschaftssubjekte das höhere Geldangebot horten und nicht ausgeben, ergibt sich daraus auch kein inflationärer Druck. Erst wenn die Geldmenge ausgabenwirksam wird, steigen auch die Preise. Doch dafür ist das Zinsniveau wichtiger als die Geldmenge. Freilich müssen die Zentralbanken die weitere Entwicklung beobachten. Aber genau das tun sie ja auch. Zahlreiche Zentralbanken haben in den vergangenen Tagen und Wochen die geldpolitische Wende eingeläutet (mehr dazu unten).

2. … sondern ein Mix aus vielen Sonderfaktoren

Anstelle der Geldmenge gibt es also eine Vielzahl von anderen Faktoren und Einflüssen, die den aktuellen Preisanstieg verursacht haben. Diese werden in der öffentlichen Diskussion natürlich auch erwähnt – aber zumeist eben erst nach der expansiven Geldpolitik. Meiner Ansicht nach sind Sie aber haupt- bzw. alleinverantwortlich für die hohe Inflationsrate: (i) das Auslaufen der Mehrwertsteuersenkung, (ii) die Anhebung der CO2-Steuer, (iii) ein dramatischer Anstieg der Energiepreise und (iv) Lieferengpässe für eine Vielzahl von Produkten. Eine genaue Quantifizierung dieser Einflüsse ist freilich schwierig, zumal zahlreiche Produktgruppen von mehreren dieser Faktoren gleichzeitig betroffen sind. Aber nur einmal zur groben Einordnung:

  • Laut Berechnungen des Statistischen Bundesamtes (hier und hier) betrug der theoretische Einfluss der Mehrwertsteuersenkung von 19% auf 16% auf die Inflationsrate nicht weniger als Minus 1,6 Prozentpunkte – gefolgt von einem Rebound in entsprechender Höhe in 2021. Tatsächlich dürfte der Einfluss etwas geringer ausgefallen sein, da nicht alle Unternehmen die MwSt-Senkung in 2020 in voller Höhe an ihre Kunden weitergegeben haben. Trotzdem dürfte nach Schätzungen des Statistischen Bundesamtes das Auslaufen der MwSt-Senkung die Inflationsrate aktuell um 0,75-1,0 Prozentpunkt nach oben drücken.
  • Der Sachverständigenrat hat zudem geschätzt, dass die CO2-Bepreisung (also die im Januar eingeführte CO2-Steuer) die Inflation in 2021 zusätzlich um 0,5 bis zu 1,1 Prozentpunkte anheben könnte. Die Bandbreite ergibt sich aus der Unsicherheit darüber, inwieweit die Produzenten die gestiegenen Kosten an den Endverbraucher weitergeben können.

Damit addiert sich allein der Einfluss der steuerlichen Änderungen auf die Inflationsrate aktuell auf 1,25-2,1 Prozentpunkte!

  • Hinzu kommt, dass sich auch der Rohölpreis in den vergangenen 12 Monaten mehr als verdoppelt hat. Hauptgrund dafür ist, dass die spürbare Erholung der Nachfrage nach dem Ende der Lockdown Phase nicht von einer nennenswerten Produktionsausweitung durch die OPEC+ abgefedert wurde. EZB Präsidentin Lagarde erläuterte diesen Umstand im Rahmen der letzten Pressekonferenz wie folgt: “we have drivers of the energy prices that have to do with the recovery, that have to do with the demand, but also other factors having to do with inventory, with the wind, with maintenance in Norway, with demand in China, with the supply by Russia.” Als Ergebnis aus steigenden Energiepreisen, einer höheren Mehrwertsteuer und der eingeführten CO2-Steuer tragen die Energiepreise damit aktuell einen Prozentpunkt zur Inflationsrate bei.
  • Der letzte Faktor ist die Kombination aus rasant steigender Nachfrage nach dem Ende der Pandemie, gestützt durch extrem hohe Sparquoten sowie massive Stimulusprogramme, und gleichzeitigen Lieferengpässen. An dieser Stelle ist es wichtig, sich daran zu erinnern, dass diese Erholung der Wirtschaft sehnsüchtig erwünscht war und auch die Fiskalpolitik in vielen Ländern alles daran gesetzt hat! Oder, wie es der US-Ökonom Brad DeLong kürzlich formulierte: “What I see is the world economy trying to rejoin the highway at speed, trying to get back to full employment. […] Whenever you rejoin the highway at speed, you leave a bunch of rubber on the road. […] And rubber on the road—not stagflation—is what we are seeing today. That is how I characterize the price rises in response to shortages and bottlenecks and supply chain disruptions. This is all a healthy part of the economic adjustment, and a necessary consequence of a rapid return to full employment—which is something we very much want to do.”

Um es zusammenzufassen: Die Gründe für die aktuell sehr hohen Inflationsraten sind höhere Steuern und Abgaben, in Kombination mit den Preiseffekten einer rasanten Erholung der Weltwirtschaft von der tiefen Rezession im Vorjahr. Die Zentralbanken dagegen haben damit zu diesem Zeitpunkt noch wenig zu tun.

3. Das Gros der Preisanstiege liegt längst hinter uns

Ich habe lange mit mir gerungen, ob ich diesen Punkt überhaupt aufnehmen soll, aber nachdem ich unzählige Male gelesen habe, dass der Inflationsdruck erst Mitte 2022 nachlassen wird, möchte ich kurz darauf eingehen: Es ist richtig, dass die Inflationsrate wohl noch bis Mitte 2022 bei über 2% liegen wird und sich auf dem Weg dahin sogar noch weiter (auf über 5% im November) beschleunigen könnte. Nicht richtig ist, dass diese Entwicklung notwendigerweise weiterhin steigende Preise impliziert. Hintergrund ist, dass die Inflationsrate die heutigen Preise mit den Preisen von vor einem Jahr vergleicht. Wenn also in einem Monat die Preise sehr stark zulegen, beeinflusst dieser monatliche Anstieg die Inflationsrate noch für weitere zwölf Monate. So dauert es zum Beispiel bis Januar 2022, bis die Effekte der MwSt-Erhöhung und der CO2-Bepreisung rausfallen, und sogar bis Juli, bis der kräftigste Anstieg der Energiepreise aus dem Sommer die Inflationsrate nicht mehr beeinflusst.

Um es an einem kleinen Zahlenbeispiel zu verdeutlichen: Wenn die Preise ab jetzt auf monatlicher Basis nicht mehr ansteigen würden (also der Preisindex im November genauso hoch ist, wie der im Oktober, usw), würde es noch bis Mai nächsten Jahres dauern, bis die Inflationsrate wieder auf unter 2% gefallen ist. Und selbst, wenn der Verbraucherpreisindex ab November in jedem Monat um 0,1% zurückgehen würde, dauerte es noch bis April (siehe Grafik).

Quelle: Statistisches Bundesamt

4. Die Inflation war jahrelang zu niedrig

Schließlich möchte ich noch daran erinnern dass die Inflationsraten in den vergangenen Jahren durchweg zu niedrig waren. Seit Januar 2000 ist der Verbraucherpreisindex in Deutschland im Mittel nur um etwas mehr als 1,5% pro Jahr angestiegen; und es gab in den vergangenen zwölf Jahren sogar vier Perioden, in denen die Preise gesunken sind. Über die Jahre hinweg hat sich damit eine kumulierte Preisniveaulücke von knapp 8% aufgebaut (siehe Grafik). Mit anderen Worten: Wenn die Preise in Deutschland jedes Jahr um 1,9% gestiegen wären, wäre das Preisniveau heute um knapp 8% höher. Eine vergleichbare Grafik für die Eurozone findet sich bei Reichlin et al (2021).

Quelle: Statistisches Bundesamt

Ein Risiko dieser dauerhaft zu niedrigen Inflationsraten ist, dass die so wichtigen Inflationserwartungen auf ein zu geringes Niveau absinken, mit der Folge, dass die Inflationsraten immer weiter zurückgehen. Auch wenn sich diese Sorge aktuell ein wenig realitätsfern anhören mag, haben viele Zentralbanken nach wie vor deutlich mehr Angst vor deflatorischen als vor inflationären Tendenzen. So hat die Bundesbank Anfang Oktober ein Diskussionspapier veröffentlicht, in dem argumentiert wird, dass eine Zentralbank weniger stark auf eine zu hohe (über 2%) Inflationsrate reagieren sollte als auf eine zu niedrige (unter 2%), um die Inflationserwartungen wieder zu stabilisieren. Die Erklärung für dieses scheinbare Paradoxon liegt in der Zinsuntergrenze, d.h. dem Umstand, dass man den Leitzins nicht beliebig weit senken kann, um drohenden deflationären Tendenzen zu begegnen: “Um ihr Inflationsziel als symmetrisch interpretieren zu können, sollte die Notenbank eine asymmetrische Strategie verfolgen. Dabei handelt es sich aber lediglich um ein scheinbares Paradoxon, da die asymmetrische Vorgehensweise eine Korrektur für die sich aus der Nullzinsgrenze ergebende Begrenzung darstellt.”

Kurzfristig haben niedrigere Inflationsraten natürlich auch Vorteile. So sind nach Angaben des Statistischen Bundesamtes zwischen 2010 und 2020 die realen (d.h. um die Inflationsrate bereinigten) Bruttogehälter in Deutschland um durchschnittlich 1,3% pro Jahr gestiegen. Auch die Renten stiegen im Mittel deutlich stärker an als die Preise. Besonders kräftige Zuwächse gab es hier zwischen 2016 und 2020, mit durchschnittlichen realen Anhebungen von 1,6% (westdeutsche Bundesländer) bzw. 2,5% (ostdeutsche Bundesländer). In Krisenzeiten kann der Anstieg der Gehälter oder Renten freilich immer mal hinter der Inflationsrate zurückbleiben. Das war 2010/11 der Fall und so ist es auch aktuell. Aber das sind nur Momentaufnahmen, die nicht aus dem Zusammenhang gerissen betrachtet werden sollten.

II. Wie geht es weiter?

1. Basiseffekte laufen aus

Ich bin also sehr zuversichtlich, dass die Inflationsrate ab Dezember – im November dürfte der Hochpunkt erreicht sein – allmählich zurückgehen und im Laufe des kommenden Frühjahrs wieder in Richtung 2% fallen wird. Grund dafür sind, wie oben beschrieben, die auslaufenden Basiseffekte: Der Effekt der MwSt-Erhöhung verschwindet im Januar komplett, während die CO2-Steuer in 2022 weniger stark angehoben wird als in 2021. Gleiches gilt für die Energiepreise. Selbst, wenn der Ölpreis noch ein wenig weiter nach oben driften sollte, wird sein Anstieg in 2022 erheblich niedriger ausfallen als es in diesem Jahr der Fall war. Und zu guter Letzt scheint sich auch die Situation bei den globalen Lieferketten allmählich zu bessern; das ist zumindest die Botschaft dieses aktuellen White House Briefings.

2. Was ist mit den Zweitrundeneffekten?

Angesichts der auslaufenden Basiseffekte, besteht wohl die größte Unsicherheit bezüglich des Inflationsausblickes in möglichen Zweitrundeneffekten: Werden Arbeitnehmer für die höheren Preise kompensiert und können Unternehmen ihre gestiegenen Kosten an ihre Kunden weitergeben? Aber auch hier bin ich zuversichtlich, dass die Preisanstiege nicht aus dem Ruder laufen werden (“zuversichtlich” bezieht sich hier freilich nur auf die Inflationsrate und weniger auf die kurzfristigen Auswirkungen auf Arbeitnehmer und Unternehmen).

Nach Angaben der Hans-Böckler-Stiftung sind die Tariflöhne im ersten Halbjahr 2021 um lediglich 1,6% angestiegen. Das ist der niedrigste Wert seit 2006 (siehe Grafik). Zwar dürften die Abschlüsse in der zweiten Jahreshälfte das Gesamtergebnis noch ein wenig nach oben ziehen. Eine wesentliche Veränderung ist allerdings nicht zu erwarten, zumal nur wenige Tarifverträge auslaufen. So sind von den zwischen Oktober 2021 und Juni 2022 neu zu verhandelnden Verträgen lediglich 1,6 Mio. Arbeitnehmer betroffen. Erst im September und Dezember des kommenden Jahres warten mit der Metall- und Elektroindustrie (3,8 Mio. Arbeitnehmer) und dem Bund und Gemeinden (2,7 Mio.) größere Verhandlungen. Aber bis dahin dürfte die Inflationsrate ja bereits schon wieder deutlich gesunken sein. Und auch der kürzlich in Hessen erreichte Abschluss im öffentlichen Dienst (+2,2% ab August 2022 und +1,8% ab August 2023) deutet nicht gerade auf übermäßige Lohnanstiege hin.

Quelle: Hans-Böckler-Stiftung

Während der Anstieg der Lohnkosten also überschaubar bleiben dürfte, kämpfen viele Unternehmen nach wie vor mit kräftig angestiegenen Kosten für Energie und andere Rohstoffe sowie für Zwischenprodukte, die sie freilich gerne an den Endverbraucher weitergeben würden. Doch ob die Unternehmen dazu in der Lage sind, ist fraglich. Schließlich hängt die Preissetzungsmacht der Unternehmen sowohl von der internationalen Konkurrenz als auch von der Nachfrageseite ab. Castro et al (2017), die im Auftrag der EU Kommission die Zweitrundeneffekte von Energiepreisanstiegen untersuchen, kommen zum Ergebnis, dass lediglich die direkten Effekte (auf z.B. Kraftstoffe) zum Anstieg der Inflationsrate beitragen. Indirekte Effekte auf Dienstleistungen, nicht-Energiegüter oder Nahrungsmittel sind dagegen nur sehr begrenzt festzustellen. In einigen Fällen fallen die Preise anderer Güter sogar, da die hohen Energiepreise die Kaufkraft der privaten Haushalte reduziert haben und entsprechend die Nachfrage in bestimmten Bereichen sinkt. Auf die aktuelle Situation angewandt, würde das bedeuten, dass sich der Preisanstieg nach dem Auslaufen der Basiseffekte wieder abflacht, da die höheren Input-Kosten eben nicht, oder nur in sehr begrenztem Umfang, weitergegeben werden können. Das ist natürlich schlecht für die Gewinnsituation der Unternehmen, aber gut für die Haushalte und die Inflation.

III. Ein schwieriger Balance-Akt für die Geldpolitik

1. Entscheidung bei Unsicherheit

Zentralbanken haben immer das Problem, dass sie Entscheidungen unter Unsicherheit treffen müssen – seit 2008 sogar unter erheblicher Unsicherheit. Das gilt natürlich auch für das im März 2020 beschlossene pandemic emergency purchase programme (PEPP) der EZB. Nur zur Erinnerung: Das war der Zeitpunkt des ersten Lockdowns. In dieser Zeit stieg die Zahl der Kurzarbeiter in Deutschland um 6 Mio. an, fiel der DAX innerhalb von vier Wochen um 35% und lag der Ölpreis bei unter 30 EUR pro Fass. Kurz gesagt, es herrschte große Unsicherheit und jede Art von Hilfe war absolut notwendig!

Jetzt hat sich insbesondere Dank der Impfungen die Situation gebessert, sodass die Zentralbanken über eine Rückführung der Krisen-Maßnahmen nachdenken. Gleichzeitig zeigt der sprunghafte Anstieg der Inzidenzen in den vergangenen Tagen aber, dass die Unsicherheit nach wie vor hoch ist. Gerade bei den aktuell niedrigen Zinsniveaus könnte eine zu schnelle Beendigung des Stimulus hohe Kosten haben, da es wenig Spielraum gibt, einen möglichen Politikfehler durch spätere Zinssenkungen zu korrigieren. Das ist die grundlegende Idee des risk-management approaches, dem zunächst vor allem die Federal Reserve, mittlerweile aber alle wichtigen Zentralbank folgen.

Aber auch ein zu langes Warten birgt natürlich potenzielle Kosten. Das Hauptrisiko liegt im “Entankern” der langfristigen Inflationserwartungen. Der IWF hat in seinem jüngsten World Economic Outlook betont, dass “while monetary policy can generally look through transitory increases in inflation, central banks should be prepared to act quickly if the risks of rising inflation expectations become more material in this uncharted recovery.” Die folgende Grafik zeigt, dass die langfristigen Inflationserwartungen für die Eurozone in den vergangenen sechs Monaten (die aktuelle Umfrage endete am 11. Oktober) in der Tat deutlich angestiegen sind. Sie liegen jetzt bei 1,8 (Median) bis 1,9% (Durchschnitt). Da sich die Zentralbänker aber bis zuletzt vor allem Gedanken über zu niedrige Inflationserwartungen machen, ist dieser Anstieg aber keinesfalls ein Grund zur Sorge – im Gegenteil.

Quelle: EZB (Survey of Professional Forecasters)

Auch die wirtschaftliche Lage hat sich in den meisten Ländern verbessert. Die Zahl der Arbeitslosen geht kontinuierlich zurück und das BIP steigt. Allerdings gehen die von der EZB befragten Professional Forecasters davon aus, dass der Vorkrisen-Trend erst 2023 erreicht sein wird (siehe Grafik). Der IWF hat einen ähnlichen Ausblick und erwartet, dass lediglich in den USA – aufgrund der massiven Fiskalprogramme der Biden-Regierung – das reale BIP seinen Trend bereits 2022/23 merklich überschreitet.

Quelle: EZB (Survey of Professional Forecasters)

2. Geldpolitische Wende ist eingeläutet

Angesichts der wirtschaftlichen Normalisierung haben viele Zentralbanken in den vergangenen Wochen und Monaten damit begonnen, den geldpolitischen Stimulus zurückzufahren. Zinsanhebungen gab es unter anderem bereits in Korea, Norwegen, Neuseeland, Tschechien und Polen. Von den “Big 4” scheint die Bank of England am weitesten zu sein. Hier wird allgemein von einer ersten Zinserhöhung im Dezember ausgegangen. Zudem hat die Federal Reserve vergangene Woche angekündigt, die Geschwindigkeit ihrer Anleihenkäufe zu reduzieren. Zinserhöhungen werden hier allerdings erst frühestens Ende 2022 erwartet.

Die EZB hinkt dabei ein wenig hinterher. Aber das ist nicht ungewöhnlich. Denn auch in der Vergangenheit lief die Geldpolitik in Europa der Entwicklung in den USA stets um ein paar Monate bis Quartale hinterher – sowohl bei Zinssenkungen als auch bei Zinserhöhungen. Im September hat die EZB angekündigt, die Anleihenkäufe im Rahmen des PEPP leicht zu reduzieren. Allerdings wurde gleichzeitig betont, dass das Programm mindestens bis März 2022 fortgesetzt wird, und in jedem Fall solange, bis die EZB davon überzeugt ist, dass die Corona-Krise vorbei ist. Zugleich sind hochrangige EZB-Mitglieder eifrig dabei, etwaige Zinserhöhungsphantasien an den Märkten zu ersticken. So sagte Chefvolkswirt Philip Lane am Montag: “An abrupt tightening of monetary policy today would not lower the currently high inflation rates but would serve to slow down the economy and reduce employment over the next couple of years and thereby reduce medium-term inflation pressure.”

3. Das mittelfristigen Inflationsrisiko zeigt nach unten, nicht nach oben

Auch ich bin der Meinung, dass Risiko für den Inflationsausblick mittelfristig nicht nach oben, sondern nach unten zeigt. Bereits zum Jahreswechsel 2022/23 dürfte die Inflationsrate in Deutschland wieder eher bei 1,5% als bei 2,5% liegen. Sobald die oben diskutierten Basiseffekte ausgelaufen sind, dürften nämlich die strukturellen Faktoren wieder überhand nehmen, die den Zentralbanken bereits vor der Corona-Krise das Leben schwer gemacht haben. Dazu gehören etwa die anhaltende Digitalisierung und die Globalisierung; IWF-Chefvolkswirtin Gita Gopinath diskutiert diese Aspekte hier. Ein zusätzlicher Faktor könnte sein, dass Produzenten und Großhändler als Reaktion auf die aktuellen Lieferengpässe ihre Kapazitäten und Läger zu kräftig aufbauen. Das resultierende Überangebot würde dann die Preise drücken – quasi wie die erste Stufe des “Schweinezyklus“. Damit kann die EZB es sich leisten, den Stimulus nur langsam zurückzuführen.

Sorgen mache ich mir in der Tat um die Nebenwirkungen der lockeren Geldpolitik. Verschiedenste Vermögenspreise, von Aktien über Credit Spreads bis hin zu Cryptos und Immobilien sind kräftig angestiegen, und erscheinen vielerorts zu hoch. Auch der IWF diskutiert dieses Problem und die daraus resultierende Anfälligkeit der Finanzmärkte in seinem aktuellen Financial Stability Report. Aber es ist ja nun einmal so, dass die Steuerung der Vermögenspreise nicht in Verantwortung der Notenbanken fällt (dies ist ein Punkt, den ich persönlich für falsch halte, aber was solls) und statt dessen anhand von makroprudenziellen Instrumenten erfolgen sollte. Damit bleibt die Inflation. Und hier ist die Situation weniger dramatisch als es der aktuelle Hype vermuten lässt. Denn wenn auf eine (Corona-bedingt) sehr niedrige Inflationsrate von 0,5% in 2020 im folgenden Jahr ein Preisanstieg von gut 3% folgt, beträgt die durchschnittliche Inflationsrate über beide Jahre hinweg gerade mal 1,8%. Also, wie DeLong diese Woche in Project Syndicate formulierte: “Why all the inflation worries?

6 Kommentare zu „Zu viel Hype um die Inflation

  1. Sehr guter Kommentar, Harm. Ich bin insbesondere gespannt, ob wir gerade den Teil 1 des Lieferketten-Lageraufbau-Schweinezyklus sehen. Grundsätzlich finde ich auch die Eindringtiefe genau richtig, so wie angekündigt: nicht zu theorielastig, nicht zu seicht. Gerne weiter so!

  2. Lieber Harm,
    schöner Artikel.
    Allerdings kann ich eine Vielzahl deiner Schlussfolgerungen nicht teilen.
    1) vor dem Pandemie konnten wir schon Anspannungen auf den Arbeitsmärkten feststellen, die dann von der Pandemie überlagert wurden. Diese Anspannungen kommen nun wieder verstärkt zum Tragen und werden zukünftig einen Druck auf die Löhne nach oben ausüben.
    2) Die Inflationserwartungen, auch die längerfristigen, sind deutlich angestiegen.
    3) Alle Prognosen weisen auf eine anziehende Konjunktur hin. Wenn dann die üppige Liquidität hinzu kommt, spricht das nicht für nachlassenden Inflationsdruck.
    4) Mich stört ein bisschen, dass die EZB einerseits auf bekannte Phänomene, auf die auch du eingehst (z.B. Mehrwertsteuererhöhung, CO2-Bepreisung in Deutschland) hinweist, andererseits war dies alles schon letztes Jahr bekannt. Die Inflationsprognose der EZB vom letzten Jahr betrug etwas über 1%. Da muss also schon noch etwas Überraschendes hinzugekommen sein.
    5) Auch stört mich, dass die EZB bei jeder kleinen Verfehlung ihres selbst gesetzten Inflationsziels fast in Panik verfällt, aber Raten übe 2% völlig verharmlost. Was war denn so schlimm an den niedrigen Inflationsraten seit 2015 bis zur Pandemie?
    6) Die fehlende Relevanz der Nichtbanken-Liquidität für die Preisentwicklung kann man so einfach nicht zeigen. Dieser Zusammenhang muss fast definitorisch gelten. Allerdings muss man natürlich die Größen P, v, Y und M in den Griff kriegen.
    7) Die Begründungen der EZB für ihr Inflationsziel von 2% sind äußerst dürftig.
    Beste Grüße
    Franz

    1. Lieber Franz, vielen Dank für Dein Feedback. Ich bin natürlich nicht völlig überrascht, dass wir zwei bei diesem Thema nicht komplett einer Meinung sind ;-). Wo wir uns einig sind, ist, dass die künftige Preisentwicklung maßgeblich von der Lohnentwicklung und den Inflationserwartungen abhängt. Hier ein paar Antworten auf Deine Punkte

      1.) ja, der Arbeitsmarkt ist angespannt und es gibt massiven Fachkräftemangel; aber übermäßige Lohnanstiege konnten bisher nicht beobachtet werden. Kann sich das ändern? Möglich
      2.) Die längerfristigen Inflationserwartungen sind deutlich angestiegen, nachdem sie zu Corona-Hochzeiten massiv eingebrochen waren. Aktuell sind sie doch auf einem vernünftigen Niveau.
      3.) Ja, die Konjunktur zieht an. Deswegen wird die Geldpolitik ja auch normalisiert werden. Der Inflationsdruck wird trotzdem nachlassen, da die beschriebenen Sondereffekte auslaufen. Ohne diese Effekte (kräftiger Rückgang der Inflation in 2020 gefolgt vom Rebound in 2021) hätten wir vmtl. beobachten können, dass die Kerninflation sukzessive gestiegen wäre (genau wie von Dir argumentiert). Aber dieses Bild ist nun einmal durch Covid massiv verzerrt.
      4.) dazu kann ich nichts sagen 😉 Das Statistische Bundesamt und der Sachverständigenrat hatten ja jedenfalls schon auf die Inflationswirkungen von MwSt und CO2 hingewiesen. Unvorhergesehen waren sicherlich die Lieferengpässe und der Spike der Energiepreise.
      5.) zu diesem asymmetrischen Verhalten hatte ich ja einige Papiere zitiert. Ich denke, der Grund dafür ist die Auffassung, dass man zu niedrige Inflationsraten bei den aktuellen Nullzinsen weniger leicht in den Griff bekommt (weil man keine/kaum noch Munition hat, um dagegen zu steuern) als evtl zu hohe Inflationsraten (dann würde man im Paul-Volcker-Stil einmal kräftig straffen).
      6.) ich stimme ja zu, dass die Quantitätstheorie aus theoretischer Sicht sehr viel Sinn macht. Aber die fehlende empirische Evidenz (in D seit 20 Jahren, in den USA, in Japan, …) sollte einen doch schon zum Grübeln bringen.
      7.) Ja, über die 2% kann man sich natürlich auch streiten. Aber – wie Du weisst – ist es ein Kompromiss, auf den man sich irgendwann seit Greenspan mal international geeinigt hat. Dass ein Inflationsziel von 0% zu niedrig ist, denke ich allerdings auch. Von daher ist ein leicht positiver Zielwert angebracht. Und die Diskussion um eine Erhöhung des Ziels ist ja voll im Gange …

      In ein paar Monaten wissen wir mehr.
      Viele Grüße aus Kiel in den Süden,
      Harm

Kommentar verfassen

%d Bloggern gefällt das: